Besser Wohnen im Alter. Neue Züricher Zeitung, 05. April 2013
Europas demografische Entwicklung hat Auswirkungen auf das Wohnen. Da die meisten älteren Menschen weiterhin selbständig leben möchten, sollten die neuen Wohnhäuser und deren Umgebung sicher und hindernisfrei gestaltet werden.
Roman Hollenstein
Mit seinen Seniorenresidenzen und Alterswohnhäusern konnte Zürich in den vergangenen Jahren auf der Bühne der Architektur brillieren. Der 2006 eröffnete «Spirgarten» von Miller & Maranta in Altstetten wirkt mit seinem gartenartigen Vorplatz, dem mit warmem Holz ausgestatteten Foyer und dem attraktiven Café einladend, und seine noble Form gliedert sich gut ein ins Quartier. Auch das 2012 vollendete, etwas düster auf die Feldstrasse blickende Alterswohnhaus von Durrer Linggi Architekten weiss mit einer filigran gestalteten, durch Holzblenden und Balkone rhythmisierten Hoffassade zu gefallen. Es überzeugt aber auch durch die Kombination von altersgerechten Apartments mit sozialen und pflegerischen Dienstleistungen in einem lebendigen Quartier.
Hier können Senioren weiterhin unabhängig leben, nur etwas bequemer. Das ist deshalb wichtig, weil die meisten Europäer ihren Lebensabend am liebsten in den eigenen vier Wänden verbringen und nicht ins Altersheim abgeschoben werden möchten, eine allgemeine Feststellung, die die «Generali-Altersstudie 2013» für Deutschland nun auch schwarz auf weiss belegt. Diesem Wunsch steht aber die Tatsache entgegen, dass Häuser – oft leider auch ganz neue – nicht schwellenlos benutzbar sind oder an Orten stehen, die schlecht mit den wichtigsten Angeboten des täglichen Bedarfs erschlossen sind.
Alltägliche Traumwelten
Vor allem Baugenossenschaften erstellen nun aber vermehrt Wohngebäude, die für alle Nutzer – vom Kleinkind bis zum Greis – optimale Bedingungen bieten. Solchen «Generationenhäusern» dürfte denn auch die Zukunft gehören. Aber nicht nur das hindernisfreie, mit «universal design» und «intelligenter Gebäudetechnik» ausgestattete Gebäude muss vermehrt ins Blickfeld der Architekten, Stadtplaner und Bauherren rücken. Auch die Schaffung eng verzahnter Nachbarschaften mit intimen Wegenetzen und öffentlich genutzten Erdgeschossen ist wichtig. Das zeigt der Erfolg eines vor gut zehn Jahren im Rahmen der Wohnausstellung «Bo01» am Öresund im Westen von Malmö realisierten neuen Stadtquartiers oder das im Bau befindliche Projekt der vom jungen Zürcher Büro Duplex Architekten konzipierten Genossenschaftssiedlung Hunzikerareal, die – basierend auf kleinstädtischen Strukturen – dank vielfältigen Wohnungsgrundrissen, verkehrsfreien Wegen und Plätzen, dank Restaurant und Kindergarten für alle Generationen vom Kleinkind bis zum Greis eine stimmige Lebenswelt bieten wird.
Da Senioren sich auch tagsüber häufig in ihrem engsten Wohnumfeld aufhalten, muss der Umgebungsgestaltung künftig mehr Bedeutung beigemessen werden. Statt der herkömmlichen, meist aus solitären Wohnblocks und kargem Abstandsgrün bestehenden Siedlungen, in denen sich viele Menschen weder wohl noch sicher fühlen, sollten vermehrt kleinräumige Anlagen mit gartenartigen Erschliessungszonen entstehen, wie sie etwa in gewissen Pariser Innenhöfen anzutreffen sind. Diese sollten möglichst abwechslungsreich mit heimischen Pflanzen, aber auch mit exotischen Gewächsen bepflanzt werden, deren immergrünes Laub selbst im grauen Winter von Leben zeugt. Ebenso wichtig sind aber auch blühende Sträucher, Stauden und Blumen, die den Jahreszyklus abbilden und so den weniger mobilen Mitmenschen – und nicht nur ihnen – in nächster Umgebung Orte zum Träumen bieten. Schrebergärten und Bereiche für das Urban Gardening könnten den betagten Flaneuren beim Verweilen im Freien zusätzliche Abwechslung bieten. Aber auch an so profane Dinge wie komfortable Sitzbänke oder öffentliche Toiletten ist zu denken.
Man sieht: Planen und Bauen für ältere Mitbürger kann eine vielgestaltige und spannende Aufgabe sein, zumal es noch einiges zu experimentieren gibt hinsichtlich einer besseren sozialen Einbindung der Senioren. Diese werden jedoch in jüngster Zeit vermehrt auch selbst aktiv und ergreifen gerade in mittelgrossen ländlichen Gemeinden, wo – anders als in den Städten – das Wohnen im Alter noch ein wenig beachtetes Thema ist, die Initiative für ihren Bedürfnissen angepasste Wohnprojekte. Dank diesen können sie, «wenn das Einfamilienhaus zunehmend zur Bürde» wird, ins Dorfzentrum ziehen, «wo sich Läden, Arztpraxis und Bahnhof in kurzer Gehdistanz zueinander befinden» (NZZ 20. 3. 13). Es gibt aber auch wohlhabende Senioren, die sich alterstaugliche Villen errichten lassen – hierzulande genauso wie in Japan. Davon und von weitaus relevanteren Aspekten des Wohnens im Alter berichtet derzeit eine vielbesuchte Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt mit dem etwas diffusen Titel «Netzwerk Wohnen – Architektur für Generationen». Die extravaganten, von Baukünstlern wie Shigeru Ban oder Sou Fujimoto an Japans Küsten errichteten Villen geben der Schau etwas Spektakuläres – ebenso wie die ins Thema einführenden Häuser, die grosse Architekten wie Le Corbusier am Genfersee, Richard Rogers in London oder Robert Venturi in Philadelphia für ihre Eltern errichteten. Vom formalen Erscheinungsbild her interessant sind jedoch auch das Haus mit Wohngemeinschaften älterer Homosexueller von Mecanoo an der Brouwersgracht in Amsterdam oder das transparente, minimalistisch elegante Alterswohnhaus von Schwarz Architekten in Domat/Ems.
Sonst herrscht in der Ausstellung aber eher der ästhetische Normalfall vor, auch deswegen, weil Juwelen wie das eingangs erwähnte Haus von Miller & Maranta erstaunlicherweise übergangen wurden. Es geht in der Frankfurter Schau, die sich als «Plädoyer für eine Normalisierung des Themas Wohnen im Alter» versteht und deshalb nur zwei eigentliche Alters- und Pflegeheime vorstellt, jedoch nicht in erster Linie um baukünstlerische Hochseilakte. Vielmehr sollen in der von einem nützlichen Katalog begleiteten Ausstellung die vielen Möglichkeiten aufgezeigt werden, die sich im weiten Feld des Bauens für die Generationen «60 plus» auftun, hat doch die sportliche Radfahrerin ganz andere Bedürfnisse als der auf einen Rollator angewiesene Greis. Für 93 Prozent der über 65-jährigen Deutschen sind Sonderwohnformen laut einer Studie der Bundesregierung kein Thema, weil sie ihren Lebensstil nicht aufgeben, sondern höchstens anpassen wollen. Besonders gefragt sind Apartments in gemischten Häusern, die sich den Nutzern über die Jahre anpassen können.
In einer Szenerie, die einer hindernisfreien Wohnung nachempfunden ist, werden im DAM mittels Fotos, Plänen und Modellen insgesamt 35 Fallbeispiele aus Westeuropa, Chile und Japan vorgestellt, vom kleinen Gartenhaus über die gemeinschaftlich genutzte Stadtvilla bis hin zum Wohnblock mit selbst organisierter Nachbarschaftshilfe. Dabei geniessen Schweizer Lösungen viel Aufmerksamkeit: etwa der von Dual Architekten in der Tradition des Stöcklis im Garten eines Einfamilienhauses errichtete Wohnpavillon Arn in Küttigkofen, die Siedlung Steinacker von Hasler Schlatter in Zürich mit zwei Kindergärten und einer Grosswohnung für Demenzkranke, das Gemeinschaftswohnhaus «50 plus» von Haerle Hubacher in Winterthur oder die Wohnfabrik «Solinsieme» in St. Gallen – ein ehemaliges Stickereigebäude, das mehrere ältere Frauen für ihre Ansprüche transformieren und erweitern liessen. Spannend sind auch die Umnutzungen eines 240 Meter langen denkmalgeschützten Scheibenhauses aus DDR-Zeiten an der Prager Strasse in Dresden oder eines hübschen, an den Ecken windschnittig abgerundeten Kaufhauses in Eschweiler.
Pilotprojekt aus Italien
Kann man hier in barrierenfreien Wohnungen ein unabhängiges städtisches Leben geniessen, so sind die Bewohner des Alters- und Pflegeheims «Symfonien» von Vilhelm Lauritzen im dänischen Næstved ebenso auf Fürsorge angewiesen wie die Insassen des Pflegezentrums «Château Heisdorf» in Luxemburg, das funktional sein mag, formal aber nicht wirklich überzeugen kann. Als Bereicherung der Umgebung erweist sich hingegen eine schon vor 15 Jahren von Behnisch Architekten in Ingolstadt verwirklichte Wohnanlage, die mit ihren wuchernden Vorgärten bei Familien und Senioren gleichermassen beliebt ist. Entfernt mit ihr vergleichbar ist die aus schwellenfrei umgestalteten Altbauten bestehende Häuserzeile neben dem Kirchlein in Tiedoli. Diese Seniorensiedlung in einem von der Abwanderung bedrohten Weiler im Apennin gilt als Pilotprojekt von gesamteuropäischer Bedeutung. Wie viele der vorgestellten Beispiele zeigt es, dass glücklicher Wohnen im Alter viele Gesichter haben kann.
Bis 19. Mai. Katalog: Netzwerk Wohnen. Architektur für Generationen. Hrsg. Annette Becker, Peter Cachola Schmal, Claudia Haas. Prestel-Verlag, München 2013. 239 S., Fr. 53.90 (€ 39.95 in der Ausstellung).